Freitag, 11. Dezember 2015

Ein Toast mit Mut

Wir schreiben den 13. November zweitausendundfünfzehn. Halb vier nachmittags. Planet Erde. Deutschland.
Ich befinde mich in meiner kleinen Kammer.
Hab ich euch schon von meiner Kammer erzählt?

Ich kann stundenlang in meiner kleinen Kammer sitzen, aus dem Fenster starren und fühlen.
Als würde ich meine Probleme und Verantwortungen und Pflichten aussperren, ziehe den Vorhang zu und bin nicht mehr ich.
Ich bin etwas viel undefinierbares, viel ungreifbares.
Unaufhaltsam wie Wasser, unsichtbar wie Luft, unbändig wie Feuer.
Es ist fast schon als wäre ich kein Körper mehr, nur noch eine Seele.
In diesem Zustand kann ich alles erreichen.
Ich bin grenzenlos.
Nach oben, und nach unten.
Und dann bin ich nicht mehr auf dieser Welt.
Ich bin mal hier, mal da, schlender' durch Fantasien und Träumerein als wäre mein Kopf eine Blumenwiese.
Ich geh' ein bisschen zurück, drei Tage, vier Monate, fünf Jahre. 
Führe Gespräche erneut, bemerke Feinheiten, die mir in der Beständigkeit des weltlichen Lebens entgangen sind.
Sammle auf dem Weg Gefühle und Gedanken auf wie solch Kieselsteine, die von Kindern entdeckt und als schön empfunden werden und Mama stolz in die Hosentasche gesteckt werden, für später. 
Ich sammle also emotionale Kieselsteine, für die ich noch keine Zeit gefunden habe, und nehme mir die Zeit, sie zu denken und zu fühlen.
Und wenn ich dabei woanders hingetrieben werde, dann lass' ich mich treiben.
Manchmal treffe ich mich selbst wieder, manchmal verliere ich mich komplett.
Noten können plötzlich zeichnen, 
Bilder können plötzlich schreiben, 
und Worte können mich plötzlich zudecken.
Wenn ich vergesse, wer ich zu sein scheine, ist die ganze Welt plötzlich so viel bunter.
Währenddessen geht die Sonne unter, meine Eltern kommen nach Hause, ein neuer Tatort läuft im Fernsehen, die Straßenlaternen gehen aus, die Vögel schlafen ein.
Und ich denke über andere Spezien nach.
Und die Sonne geht wieder auf.
Und meine Augenringe werden tiefer.
Und ich gehe in die Schule, und schaue in so viele Augen. Schaue durch so viele Menschen.
Betrachte meine Lehrerin.
Betrachte den Baum auf dem Pausenhof.
Betrachte die Wörter in meinem Heft.
Betrachte meine Hand.
Frage mich, was ein Bewusstsein ist.
Frage mich, ob sich in diesem Raum noch jemand fragt, was ein Bewusstsein ist.
Betrachte die Uhr.
Realisiere die Zeit als solches.
Und so vergeht eine Stunde.
Eine Stunde, in der alle anderen im Raum etwas über die Proteinbiosynthese in Mikroorganismen gelernt haben.
Eine Stunde, in der ich nichts über die Proteinbiosynthese in Mikroorganismen gelernt habe.
Mir fällt es schwer, present zu sein.
Ich finde diese Ebene des täglichen Lebens oft viel zu beständig, geordnet, kontinuierlich.
Die Anderen scheinen ihre Zufriedenheit aus Strukturen zu ziehen, in denen sie sich sicher fühlen. 
Während sich alle Welt freiwillig die Beine fesseln lässt, wünsche ich mir jedoch nichts sehnlicher als Freiheit.
Freiheit vom Weg, den sich die kleindenkenden Kritiker für mich vorstellen. Der führt mich um 22 Uhr brav ins Bett und um 6.30 Uhr pünktlich wieder hinaus. 
Ich bin aber nicht pünktlich, und ich habe meine Blätter nicht alle eingeheftet, und ich habe meine Überschriften nie unterstrichen, und wenn, dann ohne Lineal, und mit demselben Kugelschreiber, mit dem ich schreibe, und die Linie, die ich ziehe, ist nicht gerade - sie ist krumm, manchmal gewellt, weil ich lachte, oder geknickt, weil ich angestubst wurde, oder manchmal hört sie auf, weil die Tinte nicht schnell genug nachgelaufen ist. 
Aber ich mag diese Linie, sie ist meine Linie, und ich möchte meine Linie gerne so ziehen, wie ich sie ziehen möchte, denn eine anscheinend unsichtbare, anscheinend aber existierende Verordnung für das Ordnungsgemäße Ziehen Von Linien hat keine Relevanz für mein Glück. 

Dieses Jahr wünsche ich mir zu Weihnachten meine Lebendigkeit. 
Ein Dasein, bei dem ich fühlen kann, und denken kann, solange und so tief wie es mich treibt, ohne dass es an allen Wänden geschrieben steht, dass ich wieder einmal nicht gefallen habe. Dass ich falsch war, weil ich ich war. 
Dieses Jahr wünsche ich mir zu Weihnachten Lebensmut. 
Ich wünsche mir Mut zum Leben. 
Es gibt da nämlich einen gewaltigen Unterschied zwischen Existieren und Lebendig sein. 
Und zum Lebendig sein, da braucht man meiner Meinung nach mehr als nur 'nen Teelöffel Mut. 
Ich hätt' gern ein Glas voll Mut bitte, am besten mit wiederverschließbarem Deckel, damit der ganze Mut nicht rausläuft, und vielleicht könnte man den ja auch monatlich liefern lassen, das wär' mir ganz sympathisch.
Und dann ess' ich zum Frühstück eben einen Toast mit Mut. Und hoffentlich lässt sich dann alles leichter handhaben.
Denn bisher, so ohne Mut im Magen, ess' ich nur die Stresssteine, mit der Gabel und dem Messer, die ich mir selbst geformt hab aus meinen Unsicherheiten. Bekommt mir nicht so gut. 

Und wie wenn man mit einem Messer zuerst ein Nutellabrot schmiert, und direkt danach ein Marmeladenbrot, so schmeckt das Marmeladenbrot ein wenig nach Nutella, und so schmeckt auch mein Leben nach all den Dingen, die mich in einer Art zuvor berührt haben. Und alles wird mich berühren und bewegen, ob bewusst oder unbewusst.
Ich bin also in ständiger Bewegung.
Und in den letzten Wochen habe ich verzweifelt versucht, einen Begriff dafür zu finden.
Eine Art Überschrift, die beschreibt, wie mein Marmeladenbrot schmeckt. Wie ein Namensschild, eine Etikette, die das Netz der Vergangenheit und Zukunft zusammenfasst. Aber es rinnt mir durch die Finger wie Sand, und ich weiß nicht mal, was es ist, das mir entweicht.
Alles bleibt und alles geht.
Gib mir ein Wort für die Art und Weise, wie Dinge passieren.
Menschen verlassen uns plötzlich.
Aber manchmal sehen wir sie auch jahrelang davonkriechen.
Genauso können wir sie jahrelang auf uns zugehen sehen, schon von weiter Ferne, und manchmal werden sie schneller und wir rennen ihnen entgegen bis wir Meter für Meter mehr von ihrer Silhouette erkennen können, die Gesichtszüge, die Grübchen, die Augenfarbe, bis wir ihre Stimme, ihren Geruch uns einprägen, ihre Schuhgröße und Form der Fingernägel, und dann plötzlich drehen wir uns um und bemerken, dass wir zu nah waren, um zu bemerken, wie wir aneinander vorbei gerannt sind.
Gib mir ein Wort dafür.
Für die Art und Weise, wie solcherlei Dinge passieren.
Wie wir fühlen, und dann nicht mehr fühlen. Und wie das sein kann, die Sache mit dem Fühlen an sich.
Es ist die Machtlosigkeit, die für uns Menschen so unbegreiflich ist.
Machtlos dem Universum ergeben. Dem Schicksal. Der Natur. Egal, was auf der Medikamentenbox steht - wir sind im Endeffekt sogar gegenüber uns selbst machtlos.
Denn nicht mal unsere Gedanken geschweige denn Gefühle können wir zu hundert Prozent kontrollieren.
Wir sind intuitiv; wie ein Fluss, der einfach plätschert (ba dumm tzz für alle, die schon länger dabei sind) (*hust* okay, jetzt wieder ernst)
Doch wie sie alle versuchen, so zu tun, als hätten sie alles im Griff;
Komische alte und übergewichtige Herren und Damen in Krawatten, die Entscheidungen treffen über die Zukunft des Planeten - die aufschreiben, wie wichtig Bäume sind, auf Papier, für das sie genau diese Bäume fällten.
Alle Menschen sind Ameisen, die arbeiten und arbeiten und an einem großen Haufen bauen, aber sie sind zu klein, um zu sehen, was das überhaupt für ein Haufen ist.
Was ist das für ein Haufen?
Und wo ist dieser Haufen? Was ist das für ein Wald, indem wir unseren Haufen bauen?
Und wo ist dieser Wald?
Gibt es noch mehr Ameisen? Haben die vielleicht einen viel größeren Haufen gebaut? Vielleicht können die ja stechen! Oder vielleicht gibt es ja auch Ameisenbären, die uns Ameisen auffressen wollen...
Uns kleine, intuitive, fühlende Ameisen, die Mutbrote zum Frühstück essen müssen, weil sie sonst Angst haben.
Aber ich möchte keine Angst haben.
Ich bin vielleicht eine Ameise, und ich bin vielleicht klein, aber ich geh' jetzt da raus und entdecke den Wald, denn die Wahl, die ich habe, ist einfach:

Existieren oder leben.
Kriechen oder rennen.
Atmen oder beben.
Frieren oder brennen. - das Telefon klingelt. Abendessen ist fertig.
Ich schließe den Laptop.
Ziehe den Vorhang zu.
Gehe rüber in die Küche.
Bis zum nächsten Mal, Kammer.