Sonntag, 6. September 2015

Die Epidemie der Perfektion

--- Attention attention : Dieser Post enthält provokative Inhalte bezüglich bestimmten Lebensweisen und könnte eventuell Personen kränken, die aus krankheitlichen Gründen mit einem gesunden Essverhalten ringen. Das liegt auf keinen Fall in meiner Absicht, deshalb hoffe ich, dass sich die richtigen Personen mit diesem Post angesprochen fühlen. 
Ich hab euch alle lieb. xx --- 


Ist es mir bloß noch nie aufgefallen, oder nimmt dieser Fitness- und Dünnheitswahn eine extreme Wendung an?

Hab ich bloß nie hingeschaut, oder wird plötzlich wirklich jeder immer und immer dünner?

Es scheint mir, als würde jeder um mich herum demselben Teufelskreis verfallen. 
Oh, alle hören auf, zu essen? Muss ja was dran sein. Lass' mal mitmachen.
Die „my_healthy_body“ Profile häufen sich wie Sand am Meer. Tausende Menschen, bzw Frauen vergöttern ihren Traum vom perfekten Körper und des gesunden Lebensstils und zentrieren ihr ganzes Leben um genau diesen Punkt.
Und das ist ja auch okay, wenn sie das tiefenglücklich macht.
Doch die Niesche zwischen gesunder Ernährung und gefährlicher Störung des normalen und intuitiven Essens ist verdammt schmal.
Verdammt schmal.
Und es macht mich so traurig, zu sehen, für wie viele diese Niesche einfach zu schmal ist.
Wie viele drauf ausrutschen und auf gutem Wege sind, sich selbst und ihr gesamtes Stoffwechselsystem zu zerstören.
Denn da gibt es die positiven Accounts mit guten Absichten, die voller Motivation und Selbstliebe sprühen, und da gibt es die, die das ganze in den falschen Hals kriegen. 
Vorallem die junge Generation ist besonders anfällig für diese moderne Epidemie der psychischen Erkrankungen. 
Und Social Media gibt dem ganzen dann den schimmernden Glanz. 
Frei nach dem Motto "Einer springt von der Klippe, alle anderen hinterher". 

Und ich würd sie gern alle retten. Aber ich kann gar niemanden retten.
Ich kann höchstens reden, schreiben, und versuchen, in ihre Köpfe und Herzen zu gelangen als jemand, der sich einfach nur wünscht, dass sie glücklich sind.
Denn wenn du einmal drin bist, dann musst du kämpfen, full power, 100%, egal, wann, egal, wo.
Dafür, das einzusehen, habe ich anderthalb Jahre gebraucht. 
Hach gott, all die Stunden, in denen ich in melancholisch-romantischer Laune auf mein Müsli gestarrt habe und mich gefragt habe, was wir Menschen für ein Problem haben. 
Die Antwort hab ich dennoch nicht in diesem aufgeweichten, nach Pappe schmeckenden Chemiezeugs gefunden.

Das Problem hat sich erst tief in mich reinfressen müssen, ehe ich erkannt hab, dass sich das Problem nicht in mich reinfressen darf.

Wie eine Schlange, die sich immer wieder häutet, lass' auch ich meine alten Häute hinter mir; die schüchterne Haut, die ängstliche, depressive Haut, die Haut, die gehasst hat, eine Haut zu sein.
Und so lasse ich jetzt auch diese Haut hinter mir; die Haut, die keine Haut war, sondern ein Schaf.
Ein Herdenschaf.
Ich hab mich gehirnwaschen lassen.
Habe zugelassen, dass sich das irrsinnige Prinzip der Dünnheit in meinen Gedanken festsetzt.

Aber mal ehrlich, hands down, es ist scheiß egal, wie du aussiehst. Wenn deine Persönlichkeit glänzt, hast du schon dreifach gewonnen!

Und wie kann eine Persönlichkeit glänzen?
Durch Natürlichkeit und Invididualität.
Nicht durch einen Kaffee zum Frühstück, einen Apfel zum Mittag und ein trockenes Brot zum Abendessen.
Nun, natürlich gibt es Essstörungen, die sich aus völlig anderen Ursachen entwickeln und einem psychologisch weitaus tiefer liegenden Problem zu Grunde liegen.
Und ich versuche nicht, so zu tun als würde ich alles darüber wissen, denn ich weiß nicht alles darüber. Und bei jedem sieht die Gesamtsituation sowieso anders aus. 
Aber ich versteh' durchaus etwas vom Kampf, glücklich zu werden. 
Und für mich ist der erste Schritt dabei, zu erkennen, was einen auszeichnet.
Und da dürfen wir ruhig ein bisschen überpositiv sein.

Fegen wir die Selbstkritik doch einfach mal den Gulli hinunter, heute wird sich nicht gehasst, das haben wir schon unser Leben lang gemacht.

Ich finde, es ist an der Zeit, sich mal wieder zu lieben – in den Spiegel zu schauen und zu sagen, hey, das bin ja ich!

Ja, das bin ich.
Genau so wie ich mich in diesem Spiegel sehe. Das sind meine Beine, meine Arme, meine Muttermale, meine krumme Nase, meine farblosen Augen, meine Segelohren, meine schiefen Finger, meine Kurven, meine Narben, meine Knochen, meine Muskeln, und mein Fett. Das bin ich. Das ist alles meins. Und das akzeptiere ich heute ausnahmsweise mal alles.
Ich muss mir nicht vorheucheln, wie hübsch ich bin.
Das führt zu nichts, weil dem kein ehrliches Gefühl zugrunde liegt.
Aber genauso muss ich mir auch nicht vorheucheln, wie hässlich ich doch bin.
Denn das führt auch zu nichts.
Ich muss mir nicht vorheucheln, dass ab heute alle meine Probleme verflogen sind, und dass ich ab heute glücklich sein werde.
Denn es wird der Moment kommen, da merk ich, hey, die Probleme sind noch da. Und glücklich bin ich auch nicht.
Mist.
Glücklichkeit kommt nicht automatisch immer mit den purzelnden Pfunden. 
Wenn es mich glücklich macht, Schokoladenkuchen zu essen, dann esse ich doch meinen Schokoladenkuchen und bin glücklich. 
Aber das darf man ja heutzutage nicht. Kuchen genießen. Uh la la. Na, wenn deine Jeans morgen wohl auch noch passt. 
Sich einzugrenzen und sich bestimmte Dinge zu verbieten bringt meiner Ansicht nach überhaupt nichts positives mit sich. 
Und sich unter Druck zu setzen hat zumindest meine Situation nur noch verschlimmert.
Man kann eine Stichwunde eben nicht mit einem Messer verarzten.

Mein Vater hat mir letztens geschrieben: Anna. Es gibt nur einen Weg für dich, glücklich zu werden und zu bleiben. Das ist der Weg, dich so anzunehmen, wie du bist. Auf dein Bauchgefühl zu achten und zu vertrauen!
Und genau das, finde ich, ist eben so schwierig in unserer Gesellschaft.
Die Magazine schreien: 5 DIÄTEN, DIE DIR IN KÜRZE DEN ULTIMATIVEN TRAUMBODY LIEFERN!!
Die Prominachrichten berichten: Christina Aguilera hat 2 Kilo zugenommen – die Welt ist erschüttert. Wie konnte sie nur?!
Die Magazine versuchen, dazwischen zu funken: Die 10 cremigsten Tortenrezepte - schnell gemacht, super lecker! 
Doch Instagram fällt ins Wort: Hallo, du da, hast du heute auch gesund gegessen? Und warst du denn auch im Fitnessstudio wie wir alle? Hm? HM??
Da beginnen die Magazine wieder: 10 wirksame und völlig harmlose Diät-Tabletten – 9 von 10 Frauen waren begeistert!
  • Ja, denk ich mir. Und die eine Frau, die übrig blieb, ist zur Vernunft gekommen und hat sich 'nen Therapeuten gesucht.

Aus allen Ecken wird dir gesagt, wie du zu sein hast. Sei dünn und erfolgreich. Nein, sei dick und natürlich. Nein, sei sportlich und motiviert. Nein, sei du selbst. Aber bitte nicht zu sehr, das ist eitel.
Ohne makeup biste' hässlich, mit Makeup billig und fake. Ohne Markenkleidung arm, mit Markenkleidung angeberisch.
Wenn deine Oberschenkel sich berühren, bist du fett. Wenn nicht, sofort magersüchtig.
Deine natürlichen Haare sind langweilig und öde, aber sobald du sie dir frisierst, hast du ein Problem damit, dich so anzunehmen, wie du bist. Über deine Probleme reden ist aufmerksamkeitsgeil, schweigen viel zu zugeknöpft. Flirten macht dich zur notgeilen Bitch, Leggings tragen sowieso. Zeig dich, zeig dich nicht. Komm raus, versteck dich. Komm her, geh weg. Lieb dich, hass dich.
Meine Güte nochmal.
Egal, wie viel du isst; auf den Teller starren sie dir alle sowieso immer.
Kein Wunder, dass die Essstörungs- und Depressionsstatistiken in die Höhe schießen.
Bei dieser Gesellschaft will man sich doch wirklich am liebsten sofort erhängen.
Wen interessiert's, wer die Seele ist in diesem Körper.
Mit weniger als 300 Tinder Matches will doch eh keiner mit mir befreundet sein.
Heute wird sich verliebt in geile Ärsche und braun-gebrannte Sixpacks, und nicht mehr in ungehemmtes Lachen und süße Angewohnheiten.
Gibt's da draußen überhaupt noch echte, individuelle Jugendliche? Die... wie heißt das noch so schön, …, sich treu bleiben? Weiß da draußen noch jemand, wie das überhaupt nochmal geht, sich treu bleiben? Menschen, die in Freiheit leben. Menschen, die aufblühen wollen und nicht absichtlich eingehen weil das cool ist.
Menschen, die sich nicht begrenzen auf ihr Spiegelbild; die nicht schrumpfen wollen weder am Bauch noch im Kopf.
Menschen, die sich nicht halb verrenken, um beim Spiegelselfie möglichst dünn auszusehen (Hand aufs Herz, wir tun's doch alle..) 
Was bringt es uns? Die Aufmerksamkeit, die ich von Leuten bekäme, würde ich dünner und hübscher sein, ist die Art von Aufmerksamkeit, die ich abscheulich finde. 
Ich werte innere Stärke, Ehrlichkeit und Individualität. 
Ich find die Menschen cool, die keinen Bock haben, jedem zu gefallen. 
Menschen, die nein sagen zu dem, was ihnen vor die Füße geworfen wird. 
Trag das. Mach das. Sag das. - nööö. 
Menschen, die stopp rufen.
Ich rufe jetzt stopp.
Ich hab' unheimlich Angst, gegen den Strom zu laufen – aber ich renn' jetzt trotzdem woanders lang.
Es kostet Mut, anders zu sein.
Also lasst uns doch einfach ausnahmsweise mal mutig sein.
Ist es das Leben nicht wert, mehr zu sein als nur heiß, beliebt, dünn und hübsch?

Während alle danach streben, zu schrumpfen, möchte ich nach außen wachsen.
Zumindest möchte ich es wollen. Aber die tausend Stimmen der Gesellschaft hängen mir auch schon in den Haaren wie Öl.
Sobald ich versuche, eigenständig zu denken, legt sich die Gesellschaft wie ein Instagram-Filter über meine Gedanken. Möglichst wenig Kontrast, möglichst wenig Saturation, so wenig Persönlichkeit wie es nur geht.
Aber ich schreibe jetzt und hier, um euch aufzurufen, anders zu sein.
Lasst diese Generation keine tragisch-traurige Revolution werden, die sich durch flawless Photoshop-Lügen betäubt. 
Lasst uns unsere echten Gesichter offenbaren.
Lasst uns anfangen, über die Dinge zu reden, die uns auf den Sack gehen.
Einstecken war gestern. Traurig sein ist nicht cool. Und psychische Störungen sind kein goddamn Wettbewerb.
Also nicht rumsitzen und Opfer spielen. 
Kopf hoch, Krönchen richten, Zepter aufheben und weitergehen. 
Lasst uns scheinen von innen, nicht nur von außen.